Impulse
Schöpfungsgeschichten der indigenen Völker
Schöpfungsgeschichten sind faszinierend, im größeren Kontext vereinend und verbindend. Es sind mythische Geschichten, die eine innere Weisheit und ein Wissen widerspiegeln, um die großen Zusammenhänge des Lebens auf der Erde- inmitten eines Universums, bestehend aus Galaxien, Planeten, Sternen und vielen weiteren Schöpfungen. Wir können sie über unser Herz und unsere Seele erfühlen, jedoch nicht mit oder über unseren Kopf. Tauchen wir doch ein wenig in diesem noch neuen Jahr 2022 in die mythischen Geschichten der Urvölker ein und lassen uns auf eine Reise unseres Herzens und unserer Seele ein. Es gibt immer einen Ruf, dem wir folgen. Eine höhere Bestimmung, eine noch bessere Version der Geschichten, die wir uns selbst vielleicht schon seit langer Zeit erzählen.
Dies ist eine Einladung, in dir nachzuspüren, welche Geschichten du dir über dich selbst erzählst, die Du begonnen hast zu glauben und… zu welcher Version du diese in dir verwandeln möchtest, damit es eine leuchtendere Variante in dir hervorruft. Dies können wir mit all unseren inneren Geschichten tun. Begeben wir uns auf eine Reise in die Welt der Regenbogen-schlange- auf dass sie uns zu besseren Geschichten inspiriert, als die, die uns täglich erzählt werden.
Die Regenbogenschlange
VOM VOLK DER SHOSHONI
Jedesmal, wenn am Himmel ein Regenbogen erscheint, bewundern die Menschen seine bunten Farben und fragen nach dem Ursprung dieser seltsamen Schönheit. Aber nur die Indianer in Westen wissen eine uralte Sage darüber zu erzählen.
Zu jener Zeit herrschte eine unerträgliche Hitze. Die glühende Luft zitterte über der fast verdorrten Prärie. Flüsse und Seen waren bis auf den Grund ausgetrocknet, und die Menschen, die sich nur noch im Schatten aufhalten konnten, jammerten:
„Das Jagdwild zieht den Regenwolken nach!“
„Die Fische schwimmen mit dem Strom mit!“
„Nicht einmal die Rosen geben uns ihre eßbaren Samen, weil sie vertrocknet sind!“
„Wir werden alle sterben müssen!“
Diese Klagen der Menschen hatte eine kleine Schlange vernommen. Sie schlüpfte aus ihrem Versteck und sagte zum namenlosen Erstaunen der Indianer mit menschlicher Stimme:
„Ich besitze eine große Macht, und die will ich dazu benutzen, um euch zu helfen. Ihr braucht dabei nichts anderes zu tun, als mich hoch in den Himmel zu werfen.“
„Du wirst herunterfallen und tot sein“, entgegnete der Zauberer, der sich als erstes von dem Schreck erholt hatte.“
„O nein, ich halte mich mit meinen Schuppen oben fest und damit kann ich euch auch Regen und Schnee herunterkratzen, denn die blauen Himmelswiesen sind aus lauter bläulichem Eis.“
„Du bist viel zu klein“, widersprach der Schamane kopfschüttelnd.
„Ich kann mich so lang machen, daß ich den ganzen Horizont umspanne“, erwiderte die Schlange. Wirf mich nur ruhig hinauf, je höher, desto besser.“
Da wagte der Zauberer keine Widerrede mehr, nahm die Schlange, die sich zu einem Knäuel zusammengeringelt hatte, hob den Arm und schleuderte sie mit aller Kraft in den wolkenlosen Himmel hinauf.
Oben angekommen, ringelte sich die Schlange auf. Sie wurde länger und länger. Kopf und Schwanz sanken zur Erde, aber der Rücken wölbte sich unfaßbar hoch nach oben und kratzte mit den Schuppen das blaue Eis von der Himmelsdecke.
„Eine Regenbogenschlange! Seht nur- eine Regenbogenschlange!“ riefen die Indianer, denn der Schlangenleib leuchtete plötzlich rot, gelb, grün und violett. Das Eis am Himmel begann zu tauen, und nach langer, langer Zeit fielen endlich wieder Regentropfen zur Erde.
Das Land erwachte zu neuem Leben; die ausgetrockneten Flüsse und Seen füllten sich mit Wasser, das Wild kehrte in seine Jagdgründe zurück, die Rosen prangten in Blüten. Und die Indianer?
Die hielten ihre Gesichter den erfrischenden Wassertropfen entgegen und tanzten zu Ehren der Schlange, die seither immer, wenn es bei Sonnenschein regnet, ihren geschmeidigen Leib wie ein farbiges Band über die Erde wölbt.
Quelle: Was die Zauberpfeife erzählt. Indianermärchen. V. Hulpach. 1965.
Text von: Nadine Hennig.
Bild: Fin Maximilian, 8 Jahre